Sind Ermittlungsverfahren gegen einen Betroffenen eingeleitet, darf dieser gem. § 72 Abs. 4 AufenthG nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abgeschoben werden (zG Kaniess Abschiebungshaft-HdB Rn. 151 ff.). Nach bisheriger stRspr des BGH war dieses Erfordernis absolut zu verstehen, nicht als lediglich zeitweiliges Hindernis (BGH Beschl. v. 17.6.2010 – V ZB 93/10 – juris-Rn. 9). Es konnte daher nicht über die Prognose, das Einvernehmen werde innerhalb der Haftzeit erteilt, kompensiert werden; insofern konnte Haft nur iWd einstweiligen Anordnung (§ 427 FamFG) angeordnet werden (BGH Beschl. v. 10.2.2011 – V ZB 49/10 – juris-Rn. 7 f.).
Diese Rspr hat der BGH nunmehr im Beschl. v. 12.2.2020 – XIII ZB 15/19 aufgegeben.
Aus der Gesetzesgenese und der Rspr. des BVerwG (Urt. v. 14.12.2016 – 1 C 11/15 – juris-Rn. 24 ff.: Vorschrift begründet kein subjektives Recht des Betroffenen) folge, dass § 72 Abs. 4 AufenthG nicht zu den freiheitsschützenden Vorschriften des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG zähle (BGH aaO juris-Rn. 13 ff.). Allein das fehlende Einvernehmen führe daher nicht zur Rechtswidrigkeit einer Haftanordnung. Es gelte künftig Folgendes:
- (1) Ergibt sich aus dem Haftantrag (oder weiteren Antragsunterlagen) ein laufendes, nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren, muss der Haftantrag darlegen, „das Einvernehmen liege vor, sei entbehrlich oder werde bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein“ (BGH aaO juris-Rn. 19). Sonst ist er, soweit das Hafgericht fehlende Darlegungen nicht durch eigene Amtsermittlung heilt (Kaniess aaO Rn. 355 ff.), unzulässig. Kann die Prognose der Einholbarkeit des Einvernehmens hingegen (nach)vollzogen werden, kann Haft (auch) in der Hauptsache angeordnet werden.
Ergibt sich ein solches Ermittlungsverfahren nicht aus den Haft(antrags)unterlagen, so sind zwei Fälle denkbar:
- (2) Ergibt es sich aus einem Hinweis des Ausländers in der Haftanhörung oder Beschwerde, muss sich der Haftantrag nicht dazu verhalten; er kann also auch nicht darob unzulässig sein (vgl. BGH aaO juris-Rn. 9). Das Gericht muss aber (ggf. nach Amtsermittlung, Kaniess aaO Rn. 442 f.) eine Prognose treffen: Wenn „mit der Erteilung des Einvernehmens bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin gerechnet werden kann“, kann Haft (auch) in der Hauptsache angeordnet werden (BGH aaO juris-Rn. 20).
- (3) Ergibt es sich aus der Ausländerakte, muss sich auch hierzu der Haftantrag nicht verhalten (BGH aaO juris-Rn. 9). In dem vom BGH entschiedenen Fall war dies so, die Nichtbeachtung durch Behörde und Gericht hinderte die Haftanordnung nicht (BGH aaO juris-Rn. 12). Ob die Vorinstanzen eine Prognose wie in Fall (2) getroffen haben, ist nicht bekannt; diese scheint dann aber auch nicht erforderlich zu sein. Der Umkehrschluss aus BGH aaO juris-Rn. 19 S. 2 deutet darauf hin, dass das Übersehen keine Auswirkungen auf das Haftverfahren hat. Denn soweit die Behörde das Hindernis nicht selbst (belegt durch Mitteilung in den Haft[antrags]unterlagen) oder durch das haftgerichtliche Verfahren positiv erkennt, wird sie es ohnehin nicht beachten.
Auswirkung auf die Praxis:
Kamen nach bisheriger stRspr des BGH bei (noch) fehlendem Einvernehmen nur einstweilige Anordnungen (§ 427 FamFG) in Betracht, ist dies künftig anders: Ist der Behörde ein solches Verfahren ausweislich der Haft(antrags)unterlagen (Fall 1) oder des haftgerichtlichen Verfahrens (Fall 2) bekannt, muss sich der Haftantrag dazu verhalten (Fall 1 – sonst ist er unzulässig) bzw. das Gericht (Fall 1 und 2) eine Prognose der Einholbarkeit aufstellen. Gelingt diese, kann in der Hauptsache entschieden werden.
Ergibt sich das fehlende Einvernehmen aus der Ausländerakte, wird es künftig unbeachtlich sein (Fall 3). Dass der Haftrichter, der dies erkennt, sehenden Auges ein rechtswidriges Abschiebungsverfahren durch Haft sichert, wäre aber schwer erträglich. Es läge nahe, dann die Beteiligten darauf hinzuweisen und wie in Fall 2 eine Prognose der Durchführbarkeit zu erstellen.