Der Vermutungstatbestand der Fluchtgegfahr in § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG setzt voraus, dass eine Ausreisefrist abgelaufen ist. Erfolgt sodann nach hinreichender Belehrung ein Aufenthaltswechsel ohne Mitteilung einer neuen Anschrift, wird Fluchtgefahr vermutet (zG Kaniess Abschiebungshaft-HdB Rn. 98 ff., 216; Grotkopp Abschiebungshaft Rn. 189 ff.). Es handelt sich um einen der praktisch häufigsten Tatbestände.
In Dublin-III-Konstellationen wird jedoch regelmäßig keine Ausreisefrist gesetzt. Stattdessen erfolgt gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG die Ablehnung des in Deutschland gestellten Asylantrages als unzulässig und gem. § 34a AsylG die (direkte, d.h. ohne Frist ausgesprochene) Abschiebungsanordnung. Nur ausnahmsweise wird, wenn inlandsbezogene Abschiebungshindernisse bestehen, auf eine direkte Anordnung verzichtet und eine Ausreisefrist gesetzt (§ 34 AsylG; Kaniess aaO Rn. 213 f.).
Dieser Zusammenhang führt dazu, dass in Dublin-III-Konstellationen gem. §§ 2 Abs. 14 S. 1, 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG das Tatbestandsmerkmal des Ablaufs der Ausreisefrist regelmäßig fehlt. Das LG Arnsberg hatte dazu entschieden, dass die Frist auch „als abgelaufen (… gilt …) weil bei Entscheidungen des BAMF (…) eine Frist nicht gesetzt wird“ (LG Arnsberg Beschl. v. 16.9.2014 – 5 T 287/14 – juris-Rn. 27; aA Kaniess aaO Rn. 99, 226).
Dieser Auffassung hat sich das AG Tiergarten nicht angeschlossen: „Denn dies würde eine Überschreitung des Wortlautes und damit eine analoge Anwendung darstellen, welche im Recht der Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG) unzulässig ist (vgl. vgl. BVerfG Beschl. v. 25.2.2009 – 2 BvR 1537/08 – InfAuslR 2009, 203 – juris-Rn. 22). Dies gilt insbesondere im Bereich der Überstellungshaft, in welchem Art. 2 lit. n) Dublin-III-Verordnung über das Kriterium gesetzlich festgelegter Kriterien eine strenge Bindung an den Wortlaut der nationalrechtlichen Haftnormen statuiert (Kaniess aaO Rn. 226).“ (AG Tiergarten Beschl. v. 1.10.2020 – 382 XIV 83/20 B – juris-Rn. 6)
Auswirkung auf die Praxis:
Folgt man Kaniess aaO Rn. 99, 226 und dem AG Tiergarten, ist der Vermutungstatbestand des § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG in den regelmäßigen Dublin-III-Konstellationen praktisch nicht (mehr) anwendbar. Er wäre es nur in den Ausnahmekonstellationen des § 34 AsylG, die kaum eine Rolle spielen. Die Entscheidung des AG Tiergarten ist jedoch derzeit noch nicht rechtskräftig.