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Monat: Mai 2021

BGH: Darlegung bei StA-Einvernehmen

Nach § 72 Abs. 4 S. 1 AufenthG darf, vorbehaltlich mehrerer Ausnahmen, ein Ausländer nur im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft abgeschoben werden, soweit gegen ihn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren läuft (Kaniess Abschiebungshaft-HdB Rn. 151 ff.). Dabei handelt es sich (entgegen früherer Rspr.) um ein temporäres Abschiebungshindernis (vgl. hier im Blog), das folglich iRd Prognose der Durchführbarkeit der Abschiebung in der Haftzeit für das Haftgericht zu berücksichtigen ist.

Dabei war der BGH bei den nötigen Darlegungen vormals streng: So musste zB bezeichnet werden, „welche Staatsanwaltschaft für welches Verfahren“ ihr Einvernehmen erteilt hatte (BGH Beschl. v. 9.5.2019 – V ZB 188/17 – juris-Rn. 8) oder aus welcher GenStA-Verfügung samt Datum und Aktenzeichen sich ein generelles Einvernehmen ergab (BGH Beschl. v. 11.10.2012 – V ZB 72/12 – juris-Rn. 8), um die Angaben konkret überprüfbar zu machen.

Das wird künftig nicht mehr gelten: Nunmehr lässt der BGH bereits die pauschale Angabe ausreichen, dass aufgelistete Verfahren „entweder abgeschlossen, eingestellt bzw. die zuständige Staatsanwaltschaft (…) ihr Einvernehmen mit der Abschiebung gemäß § 72 Abs. 4 AufenthG erteilt [habe] bzw. die Straftat (…) vom generellen Einvernehmen durch die Generalstaatsanwaltschaft (…) gedeckt“ sei (BGH Beschl. v. 10.11.2020 – XIII ZB 69/19 – juris-Rn. 9).

Auswirkung auf die Praxis:

Die Rücknahme der Darlegungsanforderungen ist konsequent: Führt selbst ein von der Behörde fälschlich als bestehend oder nicht erforderlich angenommenes Einvernehmen nicht mehr zur Rechtswidrigkeit der Haft (BGH aaO juris-Rn. 10), geht es mangels Entscheidungserheblichkeit nicht mehr um die konkrete Überprüfbarkeit. Diesen Punkt mag man zweifelhaft finden (vgl. hier im Blog), folgt man dem allerdings, wird der Prüfungsmaßstab des Haftrichters abermals verringert.

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BGH: Haftgrund Fluchtgefahr bei Zurückweisungshaft

Nach der gesetzlichen Konzeption setzt Haft zur Verhinderung einer unerlaubten Einreise (Zurückweisungshaft, § 15 Abs. 5 AufenthG) keinen Haftgrund voraus. Vielmehr genügt es der Norm zufolge, wenn eine Zurückweisung an der Grenze nicht unmittelbar vollzogen werden kann, weil das Erfordernis dieser Haft durch den Versuch unerlaubter Einreise indiziert ist (BGH Beschl. v. 20.9.2017 – V ZB 118/17 – NVwZ 2018, 349 – juris-Rn. 12; zG Kaniess Abschiebungshaft-HdB Rn. 273 mwN).

Diese in der Lit. kritisierte Konzeption (zB Grotkopp Abschiebungshaft Rn. 295) hat der BGH nun aufgegeben: Richtlinienkonform bzgl. Art. 15 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) ist § 15 Abs. 5 AufenthG künftig bei Zurückweisung an einer Binnengrenzen der EU dahingehend erweiternd auszulegen, dass ein Haftgrund erforderlich ist. Handelt es sich um eine Zurückweisung

  • mit dem Ziel der Rückführung in den Heimatstaat, so muss einer der in § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG genannten Haftgründe (Fluchtgefahr oder Abschiebungsanordnung gem. § 58a AufenthG) vorliegen (BGH Beschl. v. 15.12.2020 – XIII ZB 133/19 – juris-Rn. 10). Die bloße unerlaubte Einreise genügt nicht (mehr), da richtlinienkonform nur die Nr. 1 und Nr. 3, nicht hingegen § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AufenthG anwendbar sind (BGH aaO juris-Rn. 13).
  • mit dem Ziel der Überstellung in den gem. Dublin-III-Verordnung für die Prüfung eines Schutzantrages zuständigen Staat, so muss als Haftgrund erhebliche Fluchtgefahr nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO iVm § 2 Abs. 14 S. 2 und S. 1 iVm § 62 Abs. 3a und 3b Nr. 1 bis Nr. 5 AufenthG vorliegen (BGH aaO juris-Rn. 14)

Die Erweiterung der Voraussetzungen der Haftnorm hat jedoch damit ihr Bewenden. Auch weiterhin verbleibt es dabei (eingehend Kaniess aaO Rn. 270 ff. mwN), dass die der Haft zugrundeliegenden Zurückweisung vom Haftrichter vorbehaltlich verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen unkontrolliert hinzunehmen ist; auch einer Vollstreckungsandrohung bedarf es nach wie vor nicht (BGH aaO juris-Rn. 8).

Auswirkung auf die Praxis:

Diese neue Linie des BGH darf angesichts des Umstandes, dass sie zeitgleich in mehreren Entscheidungen veröffentlicht wurde (BGH aaO; Beschl. v. 15.12.2020 – XIII ZB 16/20; Beschl. v. 15.12.2020 – XIII ZB 28/20; Beschl. v. 15.12.2020 – XIII ZB 139/19), als gesicherter Leitfaden für die Praxis dienen. Die og Haftgründe sind nunmehr erforderlich und damit auch Haftanträge, die diese nicht (hinreichend) darlegen, unzulässig (vgl. dazu Kaniess aaO Rn. 321 f.).

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BGH: Darlegung bei Rücknahmeabkommen

In Haftanträgen muss konkret zielstaatsbezogen dargelegt werden, welche Schritte bis zur Abschiebung durchlaufen werden müssen (stRspr BGH Beschl. v. 12.11.2019 – XIII ZB 5/19 – juris-Rn. 10). Dies dient dazu, dem Haftrichter die Prüfung zu ermöglichen, ob die beantragte Haftzeit so kurz wie möglich gehalten ist (Kaniess Abschiebungshaft-HdB Rn. 328 ff. mwN).

Besteht mit dem Zielstaat ein Rücknahmeabkommen, sind „die nach diesem durchzuführenden entscheidenden Schritte in dem Haftantrag darzustellen“ (BGH Beschl. v. 15.11.2018 – V ZB 251/17 – juris-Rn. 7; zG Kaniess aaO Rn. 342 f. mwN). Dies setze schon nach bisheriger Rspr nicht zwingend voraus, dass das Abkommen normativ konkret zitiert wird, wohl aber, dass das Bestehen (irgend)eines Abkommens erwähnt und die nötigen Schritte dargestellt werden (BGH Beschl. v. 16.6.2016 – V ZB 12/15 – InfAuslR 2016, 429 – juris-Rn. 9).

Nunmehr geht der BGH noch einen Schritt weiter: Auch, wenn das Abkommen „nicht erwähnt“ wird, kann es genügen, „wenn die Verfahrensschritte, die nach den einschlägigen völkervertrags- oder unionsrechtlichen Regelungen für die Überprüfung der erforderlichen Dauer der Haft entscheidend sind, so dargestellt werden, dass der Haftrichter in eine Prüfung eintreten kann.“ (BGH Beschl. v. 6.1.2020 – XIII ZB 114/19 – juris-Rn. 10 – Hervorhebung durch Verf.)

Auswirkung auf die Praxis:

Entscheidend ist, dass die Notwendigkeit der Haftzeit richterlich geprüft werden kann: Soweit der Haftantrag dies durch konkrete Darlegung der Einzelschritte ermöglicht, ist er zulässig. Eine abstrakte (und sich oft in dieser Abstraktheit fälschlicherweise auch erschöpfende) Darlegung der Inhalte von Rücknahmeabkommen ist nicht erforderlich; die vergessene Erwähnung des Abkommens rechtfertigt allein keine Zurückweisung des Antrages (mehr).

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BGH: Übersetzung von Anlagen, Anwaltsladung per Fax

In mehreren Entscheidungen hat der 13. Senat des BGH einzelne prozessuale Fragen konkretisiert. Dies betrifft die folgenden Fälle:

  • Dem Betroffenen muss zu Beginn (oder vor) der Anhörung der komplette Haftantrag übergeben und vollständig übersetzt werden, inkl. schriftlicher Nachträge oder Ergänzungen (zG Kaniess Abschiebungshaft-HdB Rn. 427 f. mwN). Der Antrag enthält oft auch Anlagen oder Fundstellen der Ausländerakte, die grds. nicht übersetzt werden müssen: Denn die Übersetzungspflicht umfasst „nur die Unterlagen (…), die für die Rechtswahrung des Betroffenen wesentlich sind. Unterlagen, die die Angaben der beteiligten Behörde im Haftantrag nur belegen, aber keine darüber hinausgehenden wesentlichen Angaben enthalten, gehören regelmäßig nicht dazu.“ (BGH Beschl. v. 10.11.2020 – XIII ZB 69/19 – juris-Rn. 12)
  • Auch im haftrichterlichen Eildienst muss versucht werden, einen vom Betroffenen benannten Rechtsanwalt zu erreichen; bei Unerreichbarkeit ist, soweit sich der Betroffene nicht mit einer Verhandlung ohne Anwalt einverstanden erklärt, einstweilig zu entscheiden und ein Termin zur Hauptsache mit dem Prozessbevollmächtigten anzusetzen (zG Kaniess aaO Rn. 402 mwN). Gerade kurzfristige Ladungen sollten telefonisch erfolgen, da dem Rechtsanwalt die tatsächliche Teilnahme ermöglicht werden muss: Wird mit einem Vorlauf von nur gut zwei Stunden per Fax geladen, genügt dies nicht, da die Reaktionszeit zu kurz ist (BGH Beschl. v. 10.11.2020 – XIII ZB 129/19 – juris-Rn. 9).

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