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BGH: Haftgrund Fluchtgefahr bei Zurückweisungshaft

Nach der gesetzlichen Konzeption setzt Haft zur Verhinderung einer unerlaubten Einreise (Zurückweisungshaft, § 15 Abs. 5 AufenthG) keinen Haftgrund voraus. Vielmehr genügt es der Norm zufolge, wenn eine Zurückweisung an der Grenze nicht unmittelbar vollzogen werden kann, weil das Erfordernis dieser Haft durch den Versuch unerlaubter Einreise indiziert ist (BGH Beschl. v. 20.9.2017 – V ZB 118/17 – NVwZ 2018, 349 – juris-Rn. 12; zG Kaniess Abschiebungshaft-HdB Rn. 273 mwN).

Diese in der Lit. kritisierte Konzeption (zB Grotkopp Abschiebungshaft Rn. 295) hat der BGH nun aufgegeben: Richtlinienkonform bzgl. Art. 15 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) ist § 15 Abs. 5 AufenthG künftig bei Zurückweisung an einer Binnengrenzen der EU dahingehend erweiternd auszulegen, dass ein Haftgrund erforderlich ist. Handelt es sich um eine Zurückweisung

  • mit dem Ziel der Rückführung in den Heimatstaat, so muss einer der in § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG genannten Haftgründe (Fluchtgefahr oder Abschiebungsanordnung gem. § 58a AufenthG) vorliegen (BGH Beschl. v. 15.12.2020 – XIII ZB 133/19 – juris-Rn. 10). Die bloße unerlaubte Einreise genügt nicht (mehr), da richtlinienkonform nur die Nr. 1 und Nr. 3, nicht hingegen § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AufenthG anwendbar sind (BGH aaO juris-Rn. 13).
  • mit dem Ziel der Überstellung in den gem. Dublin-III-Verordnung für die Prüfung eines Schutzantrages zuständigen Staat, so muss als Haftgrund erhebliche Fluchtgefahr nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO iVm § 2 Abs. 14 S. 2 und S. 1 iVm § 62 Abs. 3a und 3b Nr. 1 bis Nr. 5 AufenthG vorliegen (BGH aaO juris-Rn. 14)

Die Erweiterung der Voraussetzungen der Haftnorm hat jedoch damit ihr Bewenden. Auch weiterhin verbleibt es dabei (eingehend Kaniess aaO Rn. 270 ff. mwN), dass die der Haft zugrundeliegenden Zurückweisung vom Haftrichter vorbehaltlich verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen unkontrolliert hinzunehmen ist; auch einer Vollstreckungsandrohung bedarf es nach wie vor nicht (BGH aaO juris-Rn. 8).

Auswirkung auf die Praxis:

Diese neue Linie des BGH darf angesichts des Umstandes, dass sie zeitgleich in mehreren Entscheidungen veröffentlicht wurde (BGH aaO; Beschl. v. 15.12.2020 – XIII ZB 16/20; Beschl. v. 15.12.2020 – XIII ZB 28/20; Beschl. v. 15.12.2020 – XIII ZB 139/19), als gesicherter Leitfaden für die Praxis dienen. Die og Haftgründe sind nunmehr erforderlich und damit auch Haftanträge, die diese nicht (hinreichend) darlegen, unzulässig (vgl. dazu Kaniess aaO Rn. 321 f.).

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