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Monat: Dezember 2021

BGH: Indiztatbestand strafrechtlicher Verurteilungen

Der Indiztatbestand der Fluchtgefahr in § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG setzt voraus, dass d. Betr. wiederholt wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Dabei ist dem Wortlaut nach jede Verurteilung ausreichend, was aber nach der Historie (BT-Drs. 19/10047, S. 42) nicht recht überzeugt und nach dem Zweck der Vorschrift (kein Sanktionscharakter, nur Sicherung der Ausreise) fern liegt; nötig ist daher, dass aus den Urteilen oder dem Prozessverhalten auf die Einstellung d. Betr. zur Erfüllung seiner Ausreisepflicht zu schließen ist (zG Kaniess Abschiebungshaft-HdB Rn. 124).

Nun hat auch der BGH diese einschränkende Auslegung bestätigt: „Verurteilungen genügen allein jedoch nicht für die Annahme von Fluchtgefahr. Vielmehr muss durch das Verhalten des Ausländers zu Tage treten, dass er der deutschen Rechtsordnung ablehnend oder gleichgültig gegenübersteht und deshalb zu erwarten ist, dass er auch anderen gesetzlichen Pflichten wie der Ausreisepflicht, die zu sichern die Abschiebungshaft einzig dient, nicht freiwillig nachkommen wird“ (BGH Beschl. v. 18.5.2021 – XIII ZB 2/20 – juris-Rn. 10; so auch AG Tiergarten Beschl. v. 3.1.2020 – 383 XIV 2/20 B – juris-Rn. 18).

Auswirkung auf die Praxis:

Der Haftrichter darf sich daher nicht nur auf Angaben im Bundeszentralregister stützen, sondern muss die konkreten Verfahren würdigen, inklusive ein ggf. bedeutsames (zB kooperatives) Vollzugsverhalten d. Betr. (BGH aaO Rn. 12 f, bes. 13 aE). Entsprechend muss sich auch der Antrag der Behörde hierzu verhalten; tut er dies nicht, ist er (insofern) unzulässig (Kaniess aaO Rn. 321 f.).

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BGH: Fax-Ladung von Prozessbevollmächtigten

Für das jeweilige Haftverfahren bestellten Prozessbevollmächtigten ist die Teilnahme am Termin zu ermöglichen. Kann dies nicht (zeitnah) geschehen, darf nur iWd einstweiligen Anordnung entschieden werden und ein neuer Termin ist vor der Entscheidung zur Hauptsache mit genügend Zeitvorlauf anzusetzen (zG Kaniess Abschiebungshaft-HdB Rn. 398 ff. mwN).

Bereits letztes Jahr hatte der BGH darauf hingewiesen, dass Fax-Ladungen im Eildienst mit kurzer Reaktionszeit problematisch sein können (vgl. hier im Blog). Das Gericht hat dies in zwei neuen Entscheidungen nun konkretisiert: Weder eine Fax-Ladung 56 Minuten vor dem Termin (BGH Beschl. v. 18.5.2021 – XIII ZB 32/19 – NVwZ-RR 2021, 822 – juris-Rn. 8) noch 01:48 Stunde vor dem Termin (BGH Beschl. v. 18.5.2021 – XIII ZB 46/19 – juris-Rn. 9) bietet eine hinreichende Teilnahmemöglichkeit. In solchen Fällen ist eine (Hauptsache-)Entscheidung unabhängig von den materiellen Haftvoraussetzungen in jedem Fall rechtswidrig (BGH aaO juris-Rn. 7 bzw. 8).

Auswirkung auf die Praxis:

Gerade im Eildienst sollten Ladungen von Prozessbevollmächtigten nicht per Fax, sondern ausschließlich per Telefon gehandhabt werden. Dies wird an meinem Gericht beständig so praktiziert und funktioniert problemlos. Ist ein bestellter RA nicht erreichbar, darf nur in der Hauptsache entschieden werden, wenn sich d. Betr. damit einverstanden erklärt (Kaniess aaO Rn. 402 mwN). Andernfalls ergeht (ggf. knapp begründete) einstweilige Anordnung (für zB drei Tage) mit regulärer Fax-Ladung zu einem Hauptsache-Termin in dieser Zeit.

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EGVP-Nutzungspflicht für Haftanträge ab 01.01.2022?

Mit am 01.01.2022 in Kraft tretendem § 14b FamFG ist eine Nutzungspflicht für das EGVP geregelt, welche auch behördliche Haftanträge betreffen kann. Gerade im Eildienst großer Gerichte (die zB nur ein EGVP für das Gesamtgericht haben) macht dies die Handhabung nicht einfacher, da oftmals per Fax oder persönlicher Übergabe ein schnellerer Zugriff auf behördliche Haftanträge möglich ist.

Allerdings muss die neue Norm nicht zwingend so ausgelegt werden, dass sie Anträge auf Anordnung von Abschiebungshaft umfasst: § 14b FamFG nF statuiert in Abs. 1 eine Nutzungspflicht des EGVP für Behörden in Bezug auf Anträge, die zwingend schriftlich einzureichen sind. Abs. 2 sieht vor, dass Behörden das EGVP für sonstige Anträge nutzen „sollen“. 

  • § 14b Abs. 1 FamFG nF knüpft damit an eine echte Rechtspflicht zur schriftlichen Antragstellung. Anträge können aber nach § 25 FamFG grds. auch mündlich/telefonisch gestellt werden, soweit besondere Regelungen nicht Schriftlichkeit vorschreiben (Sternal, in: Keidel, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 23 Rn. 19). Dies tut § 417 FamFG nicht. Vielmehr beschreibt die Norm nur den notwendigen Inhalt des Antrages, nicht die Art der Einreichung. Daher kann sich der Antrag zB zT auch aus dem Sitzungsprotokoll ergeben (BGH Beschl. v. 21.10.2010 – V ZB 96/10 – juris-Rn. 13). Das FamFG sieht zwingende Schriftform bei der Beschwerde vor (§ 64 Abs. 2 FamFG), iÜ nicht. Dass § 14b Abs. 1 FamFG nF damit für das FamFG weitgehend leer läuft, hat der Gesetzgeber gesehen und aufgrund der Besonderheiten des FamFG ggü. der ZPO bewusst in Kauf genommen (BT-Drs. 19/28399, S. 39 f.).
  • § 14b Abs. 2 FamFG nF erfasst sonstige Anträge, also auch solche betr. Abschiebungshaft. Für diese „soll“ das EGVP behördlich verwendet werden. Das heißt, im Regelfall muss es das, nur im atypischen Fall nicht. Der atypische Fall soll dabei aber nicht inhaltlich, sondern zeitlich zu verstehen sein: Mit § 14b Abs. 2 FamFG nF kann „bei Vorliegen besonderer Umstände auch auf andere Formen der Antragstellung ausgewichen werden (…). Die Gerichte werden dadurch – gerade im Bereitschaftsdienst – von der (…) umfangreichen und zeitaufwändigen Prüfung befreit, ob der Antragsteller zu den von der Nutzungspflicht des §14b FamFG umfassten Personen gehört und der Antrag in der gestellten Form zulässig ist.“ (BT-Drs. 19/28399, S. 40; Hervorhebung von Verf.).

Fälle der Abschiebungshaft, die im Eildienst vorkommen, dürften also nicht unter § 14b Abs. 1 FamFG nF fallen und sind nach der Gesetzesbegründung wohl ein atypischer Fall iSd § 14b Abs. 2 FamFG. Dies betrifft die gängige Konstellation der Verhaftung mit anschließender Antragstellung und Vorführung (§ 62 Abs. 5 AufenthG). Für sie ist Fax-Antragstellung daher wohl weiter zulässig. Dies wird nur dort anders sein, wo mit genügend zeitlichem Vorlauf (zB bei laufender Inhaftierung) Vorab-Haftanträge gestellt werden; diese dürften einen Regelfall des § 14b Abs. 2 FamFG darstellen mit der Folge grds. zwingender EGVP-Nutzung. 

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BGH: Vereitelung setzt Vollstreckungsmaßnahme voraus

Der Vermutungstatbestand der Fluchtgefahr in § 62 Abs. 3a Nr. 5 AufenthG setzt die Vereitelung einer konkreten, auf Abschiebung gerichteten Maßnahme voraus (zG Kaniess Abschiebungshaft-HdB Rn. 105 ff.). Dabei muss das Verhalten über eine lediglich passive Nichtmitwirkung hinausgehen.

Hierzu hat der BGH in der ersten Entscheidung nur aktuellen Gesetzesfassung klargestellt, dass Bezugspunkt der Maßnahme die Abschiebung – und nicht etwa die Vermeidung derselben – sein muss. Deswegen genügt nicht, wenn im Vorfeld Maßnahmen erfolglos geblieben sind, zB „die beteiligte Behörde aber gerade nicht die Abschiebung des Betroffenen vorbereitet, sondern ihm – zweimal – Gelegenheit gegeben [hat], freiwillig auszureisen.“ (BGH Beschl. v. 20.4.2021 – XIII ZB 47/20 – juris-Rn. 26) Wer dem nicht nachkommt, verteilt erstens keine Abschiebungsmaßnahme und wirkt zweitens lediglich passiv nicht mit, so dass der Vermutungstagbestand ausscheidet.

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BGH: Darlegung zu Zustellungen

Nach § 417 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 FamFG müssen Haftanträge die Verlassenspflicht darlegen: Bei aufenthaltsbeendenden Bescheiden muss die Behörde den Bescheid „nicht nur ausdrücklich benennen, sondern auch darlegen, aufgrund welcher Tatsachen von einer wirksamen Zustellung oder Zustellungsfiktion ausgegangen worden ist“ (BGH Beschl. v. 23.7.2020 – XIII ZB 87/19 – juris-Rn. 10). Daher muss „dem Antrag (…) zu entnehmen sein, (…) ob und in welcher Form eine Bekanntgabe (…) erfolgt ist (… , zB mittels ZU)“ (BVerfG Beschl. v. 9.2.2012 – 2 BvR 1064/10 – InfAuslR 2012, 186 – juris-Rn. 23 f.). Nur so kann haftrichterlich die Zustellung überprüft werden (zG Kaniess, Abschiebungshaft-HdB Rn. 33, 36, 55, 314 ff. mwN).

Dass dieser Anforderung mithilfe der Abschlussmitteilung des BAMF Genüge getan werden kann, ist zweifelhaft (vgl. hier im Blog). Dies hat den BGH bewogen, die Anforderung erheblich zurückzuschrauben: Nur wenn „auf Grund des vorgetragenen Sachverhalts (…) Zweifel an der Zustellung oder am Eingreifen der Zustellungsfiktion (bestehen), muss die beteiligte Behörde zur Zustellung bereits in ihrem Haftantrag nähere Ausführungen machen“ (BGH Beschl. v. 15.12.2020 – XIII ZB 93/19 – juris-Rn. 12). Die früher strengeren Anforderungen sollen damit ausdrücklich aufgegeben werden (BGH aaO Rn. 9).

Zu den diffizilen Fragen des § 10 Abs. 4 AsylG (dazu Kaniess aaO Rn. 34) inkl. der vormals erforderlichen Angabe zB zur hinreichenden Belehrung (§ 10 Abs. 7 AsylG, so noch BGH Beschl. v. 21.8.2019 – V ZB 10/19 – InfAuslR 2019, 453 – juris-Rn. 7 ff.) muss daher nur noch bei Zweifeln dargelegt werden (BGH aaO Rn. 11). Es soll fortan insgesamt genügen, wenn die Behörde „nachvollziehbar so vorträgt, dass der Haftrichter konkrete Nachfragen stellen kann“ (BGH aaO Rn. 10).

Auswirkung auf die Praxis:

Die Entscheidung ergeht im Kontext der (komplexen) Prüfung von Zustellungsfragen an oft unbekannt verzogene Personen, die sich Asyl-Entscheidungen nicht stellen. Hierfür bietet sie eine erhebliche Vereinfachung des Prüfungsmaßstabes, da sie die prozessrechtsdogmatische Grundlage für die (einfache) Berufung auf die BAMF-Abschlussmitteilungen schafft. Allerdings scheint erstens zweifelhaft, ob dies der vom BVerfG referenzierten Darlegung genügt. Zweitens fragt sich, wann Zweifel „auf Grund des vorgetragenen Sachverhalts“ bestehen – wird nicht gerade widersprüchlich dargelegt, scheint dies kaum denkbar.

Die Entscheidung kann einen Grundstein für schlanke Haftanträge legen: Nachvollziehbar so darzulegen, dass der Haftrichter „konkrete Nachfragen“ stellen kann, klingt einfach; die Maßstäbe der Nachvollziehbarkeit und Konkretheit sind vage. Derartige Kriterien laufen Gefahr – zumal zum Asylrecht entschieden, sprachlich aber generell gehalten und allgemein an § 417 Abs. 1 S. 2 FamFG angeknüpft – die bisherigen Darlegungsanforderungen in Frage zu stellen. Es bleibt abzuwarten, ob es sich um einen Sonderweg zur Asyl-Zustellung handelt oder zum generellen Trend in der Rspr des BGH entwickelt; letztes ist jedenfalls bisher trotz Berufung auf die og Entscheidung an späterer Stelle nicht der Fall (zB BGH Beschl. v. 23.3.2021 – XIII ZB 95/19 – juris-Rn. 6).

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